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Aber nichtsdestotrotz soll dieser Besuch im Reich des Künstlers dienen, Ihnen einige Gedanken zu seinem Werk zu vermitteln. Denn alle Gedanken, alles Denken und Nachdenken braucht einen Ort, einen realen oder einen imaginären, von dem es ausgeht und zu dem es im besten Falle zurückkehrt, auf den es sich konzentriert.
Es war ein stiller Nachmittag. Der ehemalige Bauernhof, seit 1982 Lebens- und Schaffensplatz von Fritz Böhme, lag halb im Schatten der umstehenden Bäume. Zwischen Atelier und der Scheune, von welcher noch zu reden sein wird, führt eine schmale Straße zu den Feldern hinter dem Dorf. Sattes, wucherndes Grün, die Stimmen der Vögel, das Rauschen des Windes im schon fast kniehohen Gras, aus der Ferne das Hämmern von Handwerkern, es hätte eine aus Raum und Zeit gefallene Idylle sein können. Aber von der Verbundenheit dieses Ortes mit der Welt zeugte nicht allein das auf- und abschwellende Lied schwerer Motoren oben auf der Fernverkehrsstraße nach Tschechien, sondern auch das Flüstern der Dinge, die seit vielen Jahren nahezu unverändert im Atelier versammelt sind. Da stehen die Werke des Künstlers, große Figuren aus Holz, aus Keramik, aus Polyester zwischen kleineren Modellen aus Gips und Lehm, durch die halbblinden Fensterscheiben fallen Bahnen des Sonnenlichts auf die Versammlung verschiedenster Dinge, die Fritz Böhme und seine Frau von den vielen Reisen vor und nach dem Mauerfall mitgebracht haben, gleichermaßen Remineszenz und Inspiration, neben Dingen, die der Künstler in unmittelbarer Umgebung fand, bei Wohnungsauflösungen und auf Schutthalden, oder aus Abrisshäusern und vor Müllentsorgungsaktionen rettete. Denn Künstler sind im besseren Falle auch immer Retter des Dinglichen.
An der Wand neben der Tür hängt eine kleine, aber mit bildhauerischem Geschmack zusammengestellte Sammlung afrikanischer Holzfiguren, die gegenüberliegende Wand schmücken große Bahnen von Textildrucken und Webstoffen aus aller Welt. Auf einem langen Bord steht eine erlesene wie ironische Sammlung von keramischem Nachtgeschirr, ergänzt durch ein größeres Reklameschild: Nachtschiebelverleih. Der Künstler hatte nicht nur ein sicheres Auge für Geschichten und Formen, er hatte auch Humor. Auf den uralten gusseisernen Heizkörpern sammeln sich verschiedene Dinge, welche allesamt dazu dienen, die Phantasie, das Denken anzuregen.
Denn zum Denken braucht man nicht nur einen Ort, man braucht auch ein Objekt. Oder eine Versammlung von Objekten. Am besten eine Sammlung unterschiedlichster Objekte, die in der Phantasie des Künstlers zu einem stimmigen Ensemble werden, in dem scheinbar beiläufige Fundstücke, ausgewählte Preziosen und Zitate in einem ununterbrochenen Dialog mit den Gedanken und Werken des Künstlers stehen. Ein solcher Ort ist das Atelier von Fritz Böhme.
Fritz Böhme wurde 1947 in Glauchau geboren. Nun könnte man an dieser Stelle die Biografie in Zahlen und mit Hinweisen auf wichtige Stationen seines Lebens repetieren, aber das kann man heute alles schnell im Digitalen erfahren. Wer eine kurze, dafür umwerfend humorvolle Selbstbiografie des Künstlers lesen möchte, dem seien seine „Gedanken zu meinem Leben und zu meiner Arbeit“ empfohlen, die er auf dreieinhalb markanten Seiten in dem 2013 im Mironde-Verlag erschienenen Buch „Bildhauer Fritz Böhme“ notiert hat. Daraus drei kurze Auszüge:
Man taufte mich auf den Namen Fritz, wofür ich mich als Kind schämte. Meine Eltern wollten ein sinnvolles Familienleben führen und deshalb bekam ich noch drei Geschwister. Ich war der Älteste und wollte als Kind Baumeister werden. Ich verstand darunter so etwas wie Maurermeister. Mit vier Jahren rollte ich meinen ersten Nasenstein. Mein Vater fertigte darüber ein Protokoll an, was sich erhielt. Ein Grund, 50 Jahre später ein Berufsjubiläum zu feiern.“ Und:
„1965 etwa lernte ich Heinz Tetzner kennen, er leitete einen Förderzirkel. Ich wollte Grafiker werden, musste aber feststellen, dass ich nicht genügend Phantasie habe. 10 bis 20 Ideen pro Jahr, die ein Bildhauer braucht, habe ich schon.“ Und:
„Ich produziere lieber menschliche Figuren als abstrakte Figurationen. Figuren, denen ein inneres Gerüst innewohnen muss, etwas versteift, mit innerer Dynamik.
Ich bevorzuge bescheidenes und einfaches Material sowie rauhe zurückgenommene Oberflächen. Meine Arbeiten entstehen in der Regel fast ohne Vorarbeiten. Es gibt kaum Zeichnungen, nur kleine Tonskizzen bei komplizierten Vorhaben. Oft beginne ich sofort in Originalgröße. Alles sogenannte Politische habe ich in letzter Zeit abgelegt. Ich versuche ganz Wesentliches zu gestalten, vor allem Paare, Mutter mit Kind und Frauen, die meist dick und erotisch sind. Schon als Kind drehte ich mich eher nach kräftigen Mädchen um.“
Im Zentrum des Werkes von Fritz Böhme stehen unbestritten seine Frauenfiguren. Große, starke Frauen, voluminöse Frauen. Dicke, schwellende Frauen. Diese Beschreibung mag im Zeitalter von #MeToo und mehr oder weniger theoretischem Turbofeminismus nicht jedem gefallen, aber es ist alles andere als Body Shaming damit gemeint. Im Gegenteil – der Bildhauer sieht sich damit in einer ununterbrochenen Tradition der Abbildung starker Frauenfiguren, die von den ältesten bekannten Steinzeit-Figurinen bis zu den Nanas von Niki de Saint Phalle, bis in die unmittelbare Gegenwart reicht. Von den im Volksmund der Insel so genannten „fetten Damen“ auf Malta, manche 5000 Jahre jung, bis zu den Frauenskulpturen von Fernando Botero und Mia Coppolas „Dollys“. Und von den Frauenfiguren von Fritz Böhme zurück bis zu den überproportionierten „Venus“-Figuren, die seit hundert Jahren in allen Teilen der Welt gefunden wurden. Man kann über das Werk von Fritz Böhme nicht sprechen, ohne von diesen ältesten Frauenfiguren der menschlichen Kunst- und Kulturgeschichte zu sprechen. Keine andere Kunstform hat die Stellung des Menschen in der Welt, in den verschiedenen Epochen so objektiv überliefert wie die Bildhauerei. In allen großen Erzählungen vom Ursprung der Menschheit taucht das Motiv der aus dem Stein gelösten oder aus Lehm geformten ersten Menschen auf. Oft sind es Frauen, welche als Abbild die Welt als Erste betreten. Und während alte Bilder häufig zeitbedingten Veränderungen, das meint Übermalungen und Zerstörungen unterworfen sind, haben Skulpturen im Allgemeinen ihre Form bewahrt und befinden sich im besseren Falle auch noch am ursprünglichen Ort ihrer Aufstellung, ob in animistischen Höhlen, in buddhistischen Tempeln oder romanischen Kirchen.
Aber kehren wir noch einmal zurück zu den steinzeitlichen Venusfiguren. Wir alle kennen die Figurinen aus den französischen Pyrenäen, die Venus von Savignano in Italien, die russischen Frauenfiguren von Kostenki oder Gagarino. Die hierzulande vielleicht bekannteste Figur, die Venus von Willendorf, etwa elf Zentimeter groß und fast 30.000 Jahre alt, die Venus vom Hohle Fels oder die älteste bekannte von Menschenhand geschaffene Frauenfigur, die Venus vom Galgenberg aus grünem Serpentin, 40.000 Jahre alt. Ich wage zu unterstellen, dass Fritz Böhme sie alle zumindest von Abbildungen kannte. Die kulturelle Funktion dieser Objekte ist ungeklärt, es kann dazu nur spekuliert werden. Im Gegensatz zu manchen männlichen Gegenstücken wurden sie nicht als Gebrauchsgegenstände genutzt. Die meisten Interpretationsversuche gehen davon aus, dass es sich um Darstellungen zur Förderung der menschlichen Fruchtbarkeit oder um Göttinnen, insbesondere Muttergöttinnen handelt. Ein Zusammenhang mit der Fruchtbarkeit von Feldern kann ausgeschlossen werden, weil all diese Figurinen älter sind als die Kulturtechnik des Ackerbaus.
Hergestellt wurden sie aus allen Materialien, die verfügbar waren: aus Stein, Knochen, Elfenbein, Horn, Lehm, Ton und wahrscheinlich auch aus Holz.
Gemeinsam ist ihnen allen die schier übergroße Lust der frühen Künstler an der Ausformung enormer Rundungen. Eine sinnliche, Raum und Zeit sprengende Präsenz. Wie die Frauenskulpturen im Atelier von Fritz Böhme, mit denen er sich unaufgeregt in diese Reihe stellt und für die er die gleichen, in der Natur und in der Region vorhandenen Materialien nutzt. Man muss nur spüren, wie sie heute den Raum füllen.
Denn Kunst und das Kunst-Denken brauchen den Raum. Viel Raum. Weite Räume. Am besten die ganze Welt.
Und so musste ich in diesem Moment, zwischen diesen Frauen, an einen ganz anderen Künstler auf der anderen Seite der Erdkugel denken, der sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit in eine lange Linie Bildschaffender stellt. Ich spreche hier von dem sri lankischen Künstler Sanjeewa Kumara, einem der wichtigsten Maler seiner Generation auf der Insel, der in einer Selbstauskunft im Jahr 2012 zu seinen Gemälden formulierte:
„Ich arbeite gerne mit dem traditionellen Medium Öl, weil ich mich für Kunstgeschichte interessiere und Teil der künstlerischen Entwicklung des Menschen bin, von den Höhlenmalern vor 35.000 Jahren bis heute. Im Grunde verwenden wir dieselben Werkzeuge: einen Stock mit Haaren am Ende und Mineralien aus der Erde, vermischt mit etwas Öl. Ich liebe das Gefühl, dasselbe zu tun, was die Menschen schon immer getan haben.“
Bei Fritz Böhme klingt das so:
„Bleibt die Frage nach der Herkunft, der künstlerischen, der formalen. Ich fühle mich eingebettet in die Tradition der Bildhauerkunst, welche in der Eiszeit begann und die als Volkskultur, als sogenannte primitive Kultur um den Erdball reicht, oder besser reichte.
Ich habe ein universelles Kunstempfinden, obwohl mir natürlich vieles unbekannt ist. Eine Arbeit, zigtausend Jahre alt, kann mich ebenso begeistern wie eine von heute. Gegenständliches und Ungegenständliches gibt es seit der Erfindung der Kunst; seit etwa 30.000 Jahren!
Ich hoffe, meiner Arbeit sieht man an, dass ich die künstlerische Verwandtschaft von gestern kenne und den neuen Menschen, der eine neue Kunst hervorbringen könnte, noch nicht getroffen habe.“
Und noch einmal Sanjeewa Kumara, wie in einem Dialog:
„Heute gelten Gemälde als traditionelle Medien. Ich bin jedoch überzeugt, dass es immer noch Potenzial gibt, Neues zu entdecken und zu nutzen. Revolutionen sind in Gemälden immer noch möglich.
Das Besondere am Malen ist, dass ich mich endlos damit beschäftigen kann. Es gibt keine Grenzen. Es ist eine Darstellung unserer Zeit und drückt die Gefühle des Augenblicks aus.“
Ich konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Da verbanden sich hier in diesem Atelier in meinem Kopf die Gedanken zweier Künstler aus ganz unter-schiedlichen Weltgegenden zu einem ähnlichen Verständnis künstlerischen Schaffens. Das hätte auch der eingangs erwähnte Xavier de Maistre nicht besser hinbekommen. Und ich musste dazu den Raum nicht einmal verlassen. Ich musste dazu (so viel regionaler Kalauer darf sein) nicht einmal auf den purpurnen Pfaden des internationalen Kunstgeschäfts wandeln.
Auch Fritz Böhme hat traditionell gearbeitet, mit den traditionellen Werkzeugen der Bildhauerei, mit traditionellen Materialen: Holz, Stein, Ton, Gips. Er hat auch mit Polyester gearbeitet, aber das fand er schwierig und vor allem gesundheitsschädlich.
Am liebsten bearbeitete er Stein, sagt er, im Sommer, draußen: „Dabei bevorzuge ich Weichgestein oder mittelharten Stein. Dies entspricht auch einer deutschen Tradition. Edle Steine kommen da selten vor.
Man sieht einer Arbeit an, mit welchem Werkzeug sie ausgeführt wurde. Die schönsten Steinskulpturen entstanden, als es noch kein Stahlwerkzeug gab.
An Maschinen habe ich nur einen Winkelschneider für grobe Vorarbeiten.“
Stark beeinflusst sind seine Skulpturen, aber vor allem die großen Holzskulpturen seines „Lebenszyklus“, unübersehbar von der Kunst der romanischen Bildwerker und vom Übergangsstil zur Gotik. Als die Welt in heftiger Bewegung war und dies zum ersten Mal in der europäischen Kunstgeschichte umfassend dokumentiert wurde. Bis dahin dominierten kaum freie Figuren die Bildhauerkunst, die meisten Ideen waren aufgehoben in der Architektur der Kathedralen und Paläste und deren Fresken. Schwach wehte noch der Geist der griechischen skulpturalen Kunst aus vergangener Zeit herüber. Die ästhetische Mitte der Griechen bestimmte über viele Jahrhunderte den Kanon und bestand in der Harmonie von Besonderem und Allgemeinheit. Die schöne Skulptur typisierte und individualisierte zugleich den Menschen, indem sie beide Gegensätze vereinte. Sie schildert Individualität, ohne ins wirklich Portraithafte überzugehen. Das mienenhaft Charakteristische und das Hässliche, das Abweichende, vom Einzelschicksal Gezeichnete, welches die Unverwechselbarkeit des Individuums ausmacht, wird in der griechischen Kunst vermieden. Die plastische, makellose Göttergestalt war gleichsam das Urphänomen des Subjekts. Das Animalische im und am Menschen wurde durch die Schönheit zurückgedrängt.
Und dann zeigten zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Kunst die romanischen Skulpturen den nicht anders als eruptiv zu nennenden Aufbruch der Menschenbildnerei als Träger physischer und emotionaler Wahrhaftigkeit. Erstmals wurden menschliche Reaktionen, Freude und Leid, menschliches, götterfreies Miteinander wie Einsamkeit, Sehnsucht, Krankheit, Tod für bildwürdig empfunden. In diesen Bildwerken riefen die Künstler ein großes Thema auf, das uns von da an besonders in der deutschen Kunst über die folgenden Jahrhunderte erstaunlich oft wieder begegnet: die genaue Darstellung von Charakteren und menschlicher, individuell erfasster Physiognomien und Handlungsweisen. Ein konzentrierter, zugleich beiläufig und fast alltäglich wirkender Erzählfluss, der aus den Figuren spricht und das Einzelschicksal der exemplarischen Darstellung vorzieht.
Besonders die romanische Skulptur im letzten Drittel des 12. und am Beginn des 13. Jahrhunderts bezeugt noch die volle Vitalität dieser Erzählung vom Menschen mit einem unverwechselbaren Stil, der so wohlüberlegt wie raffiniert und vielfältig wirkt und dabei schon die ersten Anstöße der Gotik aufgreift, ohne aber systematisch oder gar modisch die Herausforderung mit den ersten Figuren der neuen Kunst zu suchen. Es ist die vielleicht letzte Episode der europäischen Bildhauerei, in der sich die Rationalität und Spiritualität, das Offensichtliche und das Geheimnis in selbstverständlicher, praktischer und zugleich inquisitiver Ausgeglichenheit befinden, bevor in der Gotik wieder strengere Regeln für die Darstellung von Körperlichkeit galten.
Ich will denken, dass sich Fritz Böhme genau wegen dieses produktiven Schwebezustandes mit den Kunstwerken dieser Zeit intensiv auseinandergesetzt hat. Zumindest spürt man dieses Ringen, wenn man in Hohndorf über die schmale Dorfstraße, welche durch das Gehöft führt, vom Atelier in die große Scheune wechselt, in der noch siebenundzwanzig große Skulpturen stehen, die zu seinem „Lebenszyklus“ genannten Hauptwerk gehören, der aus ca. fünfunddreißig überlebensgroßen Hölzern besteht und die er über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten geschaffen hat.
Auf den dicken Bohlen des Holzfußbodens, zwischen Staub und Holzmehl, steht, sitzt, liegt diese enorme und beeindruckende Versammlung von Menschenbildern. So weltabgeschieden sie da in Halbdunkel des riesigen Raumes stehen, so unvermittelt geht von ihnen eine zeitlose, menschliche Zugewandtheit aus. Durch die Ritzen der Scheune weht ein leichter Wind. Der Duft von Blüten, von frisch geschnittenem Gras, das Plätschern des schmalen Baches, der hinter der Scheune fließt. Von irgendwoher leise Musik. Durch die Scheune jagen sich zwei dicke junge Hummeln in halsbrecherischem Flug. Liebesspiel oder jugendlicher Übermut, man weiß es nicht. Wie auch die Figuren in dieser Dorfscheune ein unbestimmtes Geheimnis tragen, das sich durch eine seriöse, an der Kunsttheorie geschulte Beschreibung nicht auflösen lässt. Die kniehohe Mauer aus lose geschichteten Feldsteinen, auf denen Portraitbüsten und kleine Figuren, nur Entwürfe manchmal, stehen, sitzen, liegen, miteinander kommunizieren, kopulieren. Direkt vor der Tür liegt ein noch unbearbeiteter Stamm, mit alten Steppdecken verhüllt wie kostbarer Marmor. Die meisten Skulpturen des „Lebenszyklus“ sind aus Ulmenholz. Fritz Böhme sicherte sich das Material nach einem größeren Ulmensterben Mitte der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, als Forstarbeiter die mächtigen Stämme der ausgeholten Bäume auf einem Waldplatz in der Nähe von Augustusburg stapelten. Ein Schaden für die Natur, ein Glück für den Bildhauer. Es ist ein ungewöhnliches Holz, hart, aber von warmer, nahbarer Ausstrahlung, ein charakterstarkes Holz, in dem sich sowohl das Individuelle wie auch das Archetypische der Figuren steigert, sie zugleich verletzlich wie auch unverwundbar erscheinen lässt. Es gibt solche Figuren, wie schon erwähnt, auch am Ende der Romanik. Es sind Figuren, die kraftvoll genug sind, ihr Schicksal auszuhalten, die den Raum erfüllen, auf eine gütige, menschliche Art beherrschen und die Zuversicht vermitteln, das der Mensch geschaffen ist, die Kämpfe aller Zeiten zu bestehen, auch Tragik und Trauer zu überwinden. Sie formulieren kein Glücksversprechen, sondern eher einen praktischen Sinn für Realitäten, gemäß dem Schopenhauerschen Diktum, dass des Menschen Glück zumeist lediglich in der Abwesenheit von Unglück besteht. Wenn man hier, in dieser Scheune steht, begreift man, dass die Suche des menschlichen Geistes nach seinem Abbild nur gelingt, wenn man durch das Sinnliche nicht abgelenkt, sondern eher ernüchtert im guten Sinne und geerdet wird. Denn allen Figuren eigen ist ein spürbares Geerdet-, ein Bei-der-Erde-Sein, eine von aller Schwatzhaftigkeit befreite Existenz im Elementaren.
Wieder sind es vorwiegend Frauen und wieder sind sie üppig geformt. Fritz Böhme wurde einmal gefragt, warum er nahezu ausschließlich dicke Frauenbilder forme. Der eher wortkarge Künstler antwortete: „Es sind alles Mütter. Und auch Mutter Erde ist rund.“
In dieser Antwort liegt etwas so Einfaches, so unendlich Einfaches, dass es kaum einem Philosophen oder einem Dichter gelingen kann, es schlussgültig auszudrücken. Vielleicht auch keinem Maler und keinem Bildhauer. Und deshalb geht es wahrscheinlich nicht anders, als sich ein Leben lang damit auseinanderzusetzen, mit seinen Mitteln, seinem Formwillen, ob in Worten oder handfestem Material.
Auffällig ist, dass Fritz Böhme neben den prallen Frauenfiguren ein paar Männergestalten geschaffen hat, die eher dünn und kantig sind, in gequälten Posen gefangen zu sein scheinen. Er erklärte das damit, dass er mit Frauenfiguren Lebensfreude, Genuss, Sinnlichkeit und Hoffnung ausdrücken will, während Unsicherheit, Daseinsangst, Zweifel eher auf den Mann übertragen werden. Sicher, so sagte er, stecken da auch bestimmte Mythologeme in seinem Denken, Teile der Welt, des Unbewussten, die im Fühlen und Denken strukturell eingeschlossen sind und die eine menschliche Konstante darstellen, die sich unabhängig von Kultur und Zeit relativ identisch in den Erfahrungen niederschlägt. Fritz Böhme war ein Nachkriegskind, das noch in Ruinen gespielt hat, dem die Spuren der Barbarei und die körperlichen und seelischen Verheerungen eines Krieges, den Männer begonnen und geführt hatten, noch allgegenwärtig sein mussten. Und er kannte die Frauen, die in den Jahren nach dem Krieg nicht nur ihre Männer, sondern auch das Land wieder aufbauen mussten. Ihre Kraft, ihre Kraftquellen, ihre Verletzlichkeiten. Es mag Spekulation bleiben, aber wenn man die Skulpturen des „Lebenszyklus“ betrachtet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Künstler versucht hat, Menschen abzubilden, welche bei allem Zweifel, aller Angst und aller vermeintlich schutzlosen Nacktheit versuchen, sich und andere dem Zugriff der bedrohlichen, zerstörenden Mächte der Zeit zu entziehen, manchmal auch zu verweigern. Und damit wird die Nacktheit dieser Existenzen, des Menschen überhaupt, zu einem fundamentalen ethischen und philosophischen Akt. Er ist die letzte Reduktion, die einzig manifeste Spur dessen, was sich durch die Jahrtausende zieht und was den Menschen ausmacht. Es ist auch im weiteren Sinne ein Aufbegehren gegen die obrigkeitsgesteuerten Abbilder des Menschen aus den vergangenen Jahrhunderten europäischer und vor allem deutscher Geschichte. Die Rückeroberung eines von Phrasen und Ideologien unverhüllten Menschenbildes, das der Kunst- und Geistesgeschichte trotz allem von Anfang an eingeschrieben ist.
Wenn man heutige Kunstwerke betrachtet, die nicht den allfälligen Moden und nicht dem Geschmack eines rasend gefräßigen Kunstmarktes folgen, kommt gern der Begriff der Zeitlosigkeit ins Spiel mit den Gedanken. Eine in der Urbedeutung des Wortes schöne und im besten Sinne weite Beschreibung einer Kunst, die sich nicht um Moden und marktkonforme Episoden schert, die aber in den Kunstdiskussionen unserer Zeit eher abfällig im Subtext als die kleine Schwester des Altmodischen missbraucht wird.
In seinem durchaus wichtigen Buch „Skulpturen und Objekte von Malern des 20. Jahrhunderts“ (Dumont Buchverlag Köln, 2000) wagt der 1938 geborene Kunsthistoriker Andreas Franzke die These, dass die größten Beiträge zur Bildhauerei des 20. Jahrhunderts von Malern stammen, von Picasso und Modigliani über Dubuffet und Fautrier bis zu Rauschenberg, Johns und de Kooning. Ohne sie wäre die Skulptur in einem schlimmen, hoffnungslos traditionellen Zustand. Einige der wichtigsten Neuerungen für die Auffassung von Skulptur wurden demnach von Picasso und Matisse geleistet. Andreas Franzke bezieht sich dabei auf ein ähnlich lautendes Bonmot des amerikanischen Bildhauers und Malers David Smith, der dem abstrakten Expressionismus zugerechnet wird. Wahrscheinlich müssen Künstler, die sich einer einzelnen Kunstströmung zugewandt haben, solche Verdikte formulieren. Franzke folgt dieser These und schreibt darüber einen brillanten, das heißt diskussionswürdigen Text von dreihundert Buchseiten. Er betont den Beitrag der Maler und meint, dass ohne diesen die moderne Skulptur um wesentliche Facetten an Ausdrucksformen und Innovationen ärmer wäre, weil die Maler innerhalb der Abfolge von Kunstrichtungen, Tendenzen und Stilen (Franzke vermeidet tunlichst das Wort Moden) die bildtechnische Auseinandersetzung der Maler mit der dritten Dimension zu entscheidenden Neuerungen geführt habe. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings bewegte sich die von solchen Diskursen befeuerte Ästhetik immer weiter von den organischen, das heißt aus bestimmten Materialen homogen geformten Skulpturen weg in Richtung Objektkunst. So zählen surrealistische und dadaistische Objekte von Max Ernst, Salvador Dalí, Joan Miró, Marcel Duchamp und Kurt Schwitters zu den Pionierleistungen der bildnerischen Moderne schlechthin. In diesem geistigen Umfeld zieht auch die Kunsttheorie der Moderne in Richtung neuer, nicht mehr nur objektbezogener, herkömmliche Kategorien überwindender Definitionen, in denen das Objekt, wenn überhaupt noch vorhanden, zum Vehikel oder eher zum Auslöser eigenwertiger, auf den Betrachter ausgerichteter Kommunikationsebenen der bildenden Kunst und in diesem Prozess der Vorgang des handwerklichen Bildens sekundär, sogar nebensächlicher wurde. Damit wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Begriff der Skulptur so erweitert, dass er unter dem tonnenschweren Ballast begleitender kunsttheoretischer Schriften in einen neuen Akademismus mündete, in welchem er unter dem Mäntelchen einer ständig neu zu beweisenden Moderne, in dem die neuen Ismen wie durch eine Drehtür pausenlos in den überhitzten Kunstbetrieb preschen, in eine grenzenlose Beliebigkeit versickerte. Die Entwicklung der Welt- und Menschenbilder, die dem Wesen der Kunst eingeschrieben sind, mutiert immer mehr zum nahezu besinnungslosen Wettstreit immer neuer Radikalitäten und vor allem Absurditäten. Ein fast schon klassisches Beispiel ist die von Joseph Beuys propagierte Soziale Skulptur, die als originäre Schöpfung des westfälischen Großkünstlers durchaus ihre Berechtigung haben musste, aber spätestens zehn Jahre nach ihrer Erfindung schon veraltet war und heute eher mittelmäßigen und handwerklich unterdurchschnittlich versierten Absolventen diverser Kunstakademien als Eintrittsbon in staatlich finanzierte Förder-programme dient.
Dem setzen Künstler wie Fritz Böhme eine beharrliche Arbeit entgegen, die sich statt kurzlebiger, theoriebeheizter Moden ausschließlich den großen Bögen der Kunstgeschichte anvertraut, immer in dem Wissen, dass Moderne nicht unbedingt radikal sein muss, sondern sich, über die Jahrhunderte, in den besten Fällen über Jahrtausende, eher in Nuancen und Variationen ausdrückt, die nicht auf den ersten, den flüchtigen, den gehetzten Blick zu erkennen sind, für die es im Gegenteil ein geschultes Auge, einen unaufgeregten, aber wachen Geist und die Muße des Denkens in großen Bögen und offenen Räumen braucht. Das Erkennen geschieht dann in dem Moment, den Schopenhauer „Nunc stans“ nennt, einen stehenden Augenblick, der außerhalb der linearen Zeit existiert, der durch die Betrachtung von Kunst oder durch philosophische Erkenntnis erreicht werden kann und in dem der Mensch frei ist von Mode und Zeit. Solche stehenden Augenblicke scheinen auch den Skulpturen des „Lebenszyklus“ von Fritz Böhme eingeschrieben. Sie geben dem Begriff der Zeitlosigkeit seine ursprüngliche Würde zurück.
Fritz Böhme ist 2013 gestorben. Sein Werk harrt noch einer systematischen Erschließung für die Kunstgeschichte und einer sehr viel größeren Aufmerksamkeit. Vielleicht hätten die makers der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz, welche die Einbindung der Region in ihre Aktivitäten zwar predigen, dabei aber die kulturellen, in der Region bereits verwurzelten Schätze allzu oft übersehen, sich die Designerbrillen putzen sollen. Dann hätte vielleicht auch ein Weg nach Hohndorf zum Werk eines bemerkenswerten Bildhauers geführt. Es ist ein großes Glück, dass die Frau des Künstlers, Hannelore Böhme, sich entschlossen hat, den Nachlass ihres Mannes unverändert zu bewahren in einer Zeit, in der alles nach Veränderung drängt. Damit ist etwas ungemein Seltenes gelungen. Der Schaffensort von Fritz Böhme in seiner heutigen Präsenz ist eine Zeitkapsel. Und zwar eine, welche den ungleich bekannteren Time Capsules von Andy Warhol zum Beispiel an Authentizität, Ausweis täglichen Schaffenswillens und im Anspruch als Enzyklopädie individueller Leidenschaft eines Kunstschöpfers und zeitübergreifender Spannung in nichts nachsteht. Alles ist noch an seinem Ort. Hohe Kunst steht neben dem Treibgut des Alltäglichen und Fundstücken aus aller Welt. Man kann das Werkzeug des Künstlers sehen, seine Inspirationen. Unter der Werkbank liegen noch die Holzspäne, auf den Regalen sitzen die Figuren, wie ihr Erschaffer sie platziert hat. Frau Böhme zeigte mir bei meinem Besuch einen dicken Aktenordner, in dem sie in Klarsichtfolien die Fotos und Beschreibungen aller Werke ihres Mannes aufbewahrt hat, ein Werkverzeichnis in ungedruckter Form. Es umfasst dreihundertfünfundneunzig Werke. Die Nummer 1 trägt eine farbig gefasste Holzfigur, ein „Rumänischer Hirte“, das erste Werk, das Fritz Böhme als gültig bezeichnete, ein Geschenk an seine Frau. Das letzte Werk trägt die Nummer 395, „Sitzende mit abgewinkelten Bein“, eine halblebensgroße, natürlich üppige Frau aus Steinzeug. Das Alpha und das Omega eines rastlosen Künstlerlebens. Vieles davon ist noch in Hohndorf, im Atelier, in der Scheune und im prächtig wuchernden Garten rings um die Häuser zu besichtigen.
Die Bildhauerzeichnungen hat Hannelore Böhme in einer großen Mappe verwahrt. Sie sind noch nie gezeigt worden. Fritz Böhme selbst hat sich nie als großen Zeichner gesehen. Aber ich finde, sie stehen an Ernsthaftigkeit und Formwillen in nichts seinen dreidimensionalen Werken nach. Es ist eine große Freude, dass jetzt erstmalig eine Auswahl davon der Öffentlichkeit präsentiert werden kann, gemeinsam mit ausgewählten Skulpturen. Zu danken ist das Frau Hannelore Böhme und Uwe Schwarz von der Turmgalerie.
1993 schrieb Fritz Böhme in einem schmalen Katalog, herausgegeben anlässlich einer Ausstellung in der Neuen Sächsischen Galerie in Chemnitz: „Kunst zu machen ist für mich immer noch ein geheimnisvoller Vorgang.“ Und später: „Das Gesamtgewicht der von mir bisher geschaffenen Skulpturen übersteigt mein Körpergewicht von 75 kg mindestens 300 mal.“
Bis zu seinem Tod zwanzig Jahre später mag sich das Gewicht seiner Skulpturen noch einmal mehr als verdoppelt haben. Das Gewicht des Künstlers in der Kultur dieser Region und dieses Landes und in der Kunstgeschichte zu bemessen, ist eine Aufgabe, die noch ansteht für heutige und künftige Generationen.
Augustusburg, Juni 2025